Wissenschaftler*innen der Universität Stuttgart und Freiburg forschen an dem Pavillon „livMatS Biomimetic Shell @ FIT“ zu neuen Ansätzen für nachhaltiges Bauen.
Das Bauwesen steht vor der großen Herausforderung, angesichts wachsender Bevölkerungszahlen weniger Ressourcen zu verbrauchen und auf nachhaltige Materialien umzustellen. Wissenschaftler*innen der Universitäten Stuttgart und Freiburg werden künftig disziplinenübergreifend neue Ansätze für ein Bauen der Zukunft entwickeln. In einem gemeinsamen Projekt haben die Forscher*innen einen Pavillon in Holzleichtbauweise an der Technischen Fakultät der Universität Freiburg errichtet, an dem sie modellhaft neue Materialien und Bauweisen erproben und erforschen. Für den Bau der „livMatS Biomimetic Shell @ FIT“ haben Wissenschaftler*innen neue computerbasierte Planungsmethoden, robotische Fertigungs- und Bauprozesse sowie neue Formen der Mensch-Maschine-Interaktion eingesetzt, die eine deutliche Ressourcenersparnis im Vergleich zum konventionellen Holzbau ermöglichen. Der Pavillon, der nach bionischen Prinzipien konzipiert wurde, ist in einer Kooperation der Exzellenzcluster Integrative Computational Design and Construction for Architecture (IntCDC) der Universität Stuttgart und Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) der Universität Freiburg entstanden.
Nachhaltige Holzwerkstoffe und optimierte Herstellung
Der Holzbau hat in den letzten zehn Jahren stark an Bedeutung als Ersatz für die CO2-intensiven Baustoffe Stahl und Beton gewonnen. Die „livMatS Biomimetic Shell @ FIT“ besteht aus Hohlkassetten aus Holz, wodurch sich der Materialverbrauch für die Gebäudehülle und ihr Gewicht minimieren lassen. Eine detaillierte Lebenszyklusanalyse zeigt, dass der Materialeinsatz bei dem Bau um mehr als 50 Prozent und das Erderwärmungspotenzial um nahezu 63 Prozent im Vergleich zu einem konventionellen Holzbau reduziert sind. „Das materialeffiziente Prinzip der Hohlkassette haben wir bereits beim BUGA Holzpavillon 2019, den wir bei der Bundesgartenschau in Heilbronn 2019 präsentiert haben, in einem temporären, offenen Bauwerk angewendet“, sagt Prof. Achim Menges vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und Sprecher des Exzellenzclusters IntCDC der Universität Stuttgart. „Wir haben dieses Prinzip für ein dauerhaftes, geschlossenes Gebäude mit ganzjähriger Nutzung weiterentwickelt. Die Holzbauweise haben wir dahingehend optimiert, dass wir nachhaltigere Holzwerkstoffe nutzen und die Bauteile so angepasst haben, dass bei der robotischen Herstellung so wenig Verschnitt wie möglich entsteht.“ Die gesamte Baustruktur ist so konzipiert, dass sie einfach zerlegt werden kann, wiederverwendbar ist und ihre Bestandteile sortenrein trennbar bleiben.
Bioinspiration: Das modular aufgebaute Skelett des Seeigels
Der modulare Aufbau und die Formgebung basieren auf den Bauprinzipien des Skeletts von Seeigeln. Es besteht aus einzeln angeordneten Platten und ist hierdurch besonders leicht und stabil. Bei natürlichen Konstruktionen ist der sorgfältige Umgang mit knappen Ressourcen ein entscheidender Vorteil in der Evolution. „Der Pavillon zeigt, wie eine lastangepasste und materialeffiziente Konstruktion auch unter den heutigen Bedingungen wirtschaftlich hergestellt werden kann. Der Schlüssel dazu ist die konsequente Digitalisierung von Planung und Fertigung“ sagt Prof. Jan Knippers vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) und stellvertretender Sprecher des Exzellenzclusters IntCDC der Universität Stuttgart.
Fertigung und Montage durch Bauroboter
Die Bauteile wurden von einer neuentwickelten, transportablen Roboterplattform durch den Kooperationspartner müllerblaustein HolzBauWerke GmbH gefertigt. Dabei wurden manuelle Teilmontageschritte von Sonderbauteilen wie Leuchtmitteln und Akustikelementen mithilfe von Augmented Reality integriert. „Diese Form der Mensch-Maschine-Interaktion im Fabrikationsprozess ermöglicht eine effektive, digital-handwerkliche Herstellung komplexer Bauteile mit einem hohen Maß an Präzision“, sagt Menges. Für die „livMatS Biomimetic Shell @ FIT“ kamen zudem erstmals automatisierte hydraulische Manipulatoren in einer realen Baustellensituation zum Einsatz. Das Institut für Systemdynamik (ISYS) hat sich mit der Automatisierungsaufgabe beschäftigt und die Manipulatoren mit speziellen Endeffektoren wie einem Vakuumgreifer ausgestattet, die Bauteile aufnehmen, sie automatisch an der entsprechenden Einbauposition platzieren und in Position halten, bis diese von einem weiteren Manipulator verschraubt werden. Ein wichtiger Aspekt ist die Lokalisierung und Präzision der Bauroboter. „Damit diese Bauroboter präzise arbeiten, haben wir ein automatisiertes Netz aus Echtzeit-Tachymetern entwickelt, das ihre Positionen bestimmt“, sagt Prof. Volker Schwieger vom Institut für Ingenieurgeodäsie (IIGS).
Ein auf Temperatur und Luftfeuchtigkeit reagierendes Verschattungssystem schützt das Innere vor Sonne
„Unser Ziel ist, den Pavillon energieneutral zu betreiben“, sagt Prof. Jürgen Rühe vom Institut für Mikrosystemtechnik und Mitglied des Sprecherteams des Exzellenzclusters livMatS der Universität Freiburg. Der Bau ist mit einer thermisch aktivierten Bodenplatte aus Recyclingbeton ausgestattet, die diesen auf der Basis von geothermischen Quellen wärmt und kühlt. Ein wetterresponsives Verschattungssystem aus biobasierten, 4D-gedruckten Materialien an einem Oberlicht reguliert das Gebäudeklima, indem es das Innere im Sommer vor hohen Wärmelasten abschirmt und im Winter Sonneneinstrahlung zulässt. „In Zeiten des Klimawandels und der dadurch verursachten zunehmenden Hitzebelastung werden effiziente und wartungsarme Verschattungssysteme wie das in der ‚livMatS Biomimetic Shell @ FIT‘ verwirklichte ‚Solar Gate‘ immer wichtiger“, sagt Prof. Thomas Speck, Direktor des Botanischen Gartens und Mitglied des Sprecherteams des Exzellenzclusters livMatS der Universität Freiburg. Das „Solar Gate“, das sich passiv an die Sonnenbedingungen anpasst, basiert auf einem biomimetischen Prinzip nach dem Vorbild von Kiefernzapfen, die sich feuchtigkeitsgesteuert öffnen und schließen. „Wir werden künftig auch an weiteren Lösungen forschen, wie wir Gebäudefassaden so ausgestalten können, dass sie sich an wechselnde Umgebungsbedingungen wie zum Beispiel die Temperatur anpassen. So können wir ein angenehmes Raumklima schaffen und einen CO₂-neutralen Betrieb des Gebäudes ermöglichen“, sagt Rühe.